Clarisse Nicoïdski: LUS OJUS LAS MANUS LA BOCA & CAMINUS DI PALAVRAS - DIE AUGEN DIE HÄNDE DER MUND

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LUS OJUS LAS MANUS LA BOCA & CAMINUS DI PALAVRAS - DIE AUGEN DIE HÄNDE DER MUND & WEGE DER WÖRTER

Gedichte, zweisprachig: Sephardisch - Deutsch


ISBN 978-3-927648-62-3 

Einband, broschiert
132 Seiten
14,8 × 21 cm
20,00 Eur[D] / 22,00 Eur[A/CH]

Das sephardische Werk in einem zweisprachigen Band mit drei unveröffentlichten Gedichten.
Herausgegeben und aus dem Sephardischen von Juana und Tobias Burghardt.
Umschlaggestaltung von Juana Burghardt.
Nachwort von Tobias Burghardt


Edition Delta, Stuttgart 2018

am Morgen des Ortes
gingen die Erwachten
lass mir deine Stimme
gib mir die Farbe der Zeit
um
die Augen zu tauschen
um nah am Fluss entlangzugehen
die Sonne kommt
Regenluft entfernt sich
beladen
wie ein Schleier aus Erinnerungen
bück dich
nimm das Gras in die Hand
das ist das Vergangene

Seitdem ich anfing zu schreiben, betrachtete ich mich als Schriftstellerin der französischen Sprache, denn diese ist meine Sprache, die mir »gehört« und der ich mehr als jeder anderen »angehöre«. Sie bildet den Grundstoff meines Denkens und meines Fühlens, aber nicht den einzigen...

Meine Mutter war eine Italienerin, aufgewachsen in Triest, ursprünglich aus Sarajevo. Mein Vater, der in Sarajevo aufwuchs, traf sie 1936 in Spanien (Barcelona), wo ihre Familie zu jener Zeit lebte.

Sie gingen gemeinsam nach Frankreich, wo sie heirateten, begeistert von dem, was sie von der Volksfront entdeckten. In Lyon wurde ich geboren. Viele Sprachen wurden Zuhause gesprochen: Italienisch, Serbokroatisch, einige Wörter auf Deutsch und ein wenig Französisch. Und in allen wurde gesungen. Eine Sprache hatten meine Eltern, die beiden bekannt war: wir nannten sie »unser Spanisch« und sie stammte von unseren Großeltern, die zu den »türkischen Osmanen« gelangten, wie es hieß, seit der Inquisition Spaniens. Diese Sprache assimilierte viele Wörter der fremden Länder, die sie durchquerten. Es gab keine Erinnerung an Verfolgung oder Zersplitterung in jenem Land, das vor nicht so langer Zeit Jugoslawien genannt wurde.

Sie überstanden den Krieg wie viele Leute: leidend, sich versteckend, und am Ende retteten sie sich mit den beiden Kindern, die wir damals waren. Der größte Teil der Familie, der in Jugoslawien geblieben war, wurde von der Ustascha, den Allierten der Nazis, vernichtet.

Als ich anfing, zur Schule zu gehen, war das Französische für uns alle die Sprache, die wir zu unserer machen mussten. Ich zeigte kein großes Interesse für die andere Sprache, die »von der Familie« war, vom »Geheimnis«, vom Schrecken und vielleicht von der Schande. Sie hat aus uns »die Verborgenen« gemacht. Zudem schien sie mir im Vergleich zum Französischen ohne Noblesse, ohne Grammatik und ohne... Literatur!

Mit siebzehn Jahren entdeckte ich die Texte von Cervantes und den Lazarillo de Tormes und auch, dass »unser Spanisch« oder Djudezmo (Judenspanisch) Wurzeln im Besten der spanischen Literatur hatte und ein wertvolles Zeugnis einer Epoche der Sprache war.

Das Spanische war mir vertraut, oftmals gebrauchte ich allerdings Wörter, die meine Lehrer sehr erstaunten. Wie viele Male nannte ich nicht den Samstag aus dem Hebräischen »Schabbat« und den Sonntag »Achat!«.

Der Tod meiner Mutter war eine große Erschütterung. Zudem begriff ich, dass mit ihr endgültig ein wenig jener Sprache meiner Kindheit fortging und dass für unsere Generation der Tod unserer Eltern den Tod einer Sprache bedeutete.

In dieser Sprache befanden sich die Liebe meiner Mutter, unser Vertrautsein und unser Lachen.

So wagte ich, diese Gedichte zu schreiben, damit der Eindruck ihrer Stimme bleibt. Nach jeder Beendigung eines Buch auf Französisch widmete ich mich »unserem Spanisch« und schrieb darin so etwas wie ein Lied.

Ich weiß nichts von Religion, oder fast nichts, doch ich möchte, dass diese Worte in der verlorenen Sprache für sie, meine Mutter, wie ein Kaddisch sein mögen, der von Zeit zu Zeit wiederholt wird.

Clarisse Nicoïdski

Stimmen

Clarisse Nicoïdski

Was weiß man bei uns über sephardische Dichtung?

Die Gedichte von Clarisse Nicoïdski sind von einer starken Bildhaftigkeit durchdrungen, sie sind gut zu verstehen und haben einen weiten Atem.

Wunderbar sind die fünf Gedichte an Federico García Lorca, die in Strophik und Tonlage eine Hommage an Lorcas Lyrik sind.

Juana und Tobias Burghardt haben die Gedichte präzise und ohne falsches Pathos übersetzt. Das Buch mit der Titelvignette von Juana Burghardt ist ein literarisches Kleinod, das uns Einblicke in eine große europäische Dichtung schenkt.

Matthias Ulrich, NOXIANA – Nr. 44, Zeitschrift für Literatur und Zeichnung, Herbst 2018


Die Poesie von Clarisse Nicoïdski ist ein Schlüsselwerk der gegenwärtigen sephardischen Poesie.

Tobias Burghardt


»...die Poesie von Clarisse Nicoïdski, diaphan wie ein Feuer.«

Juan Gelman


»Clarisse Nicoïdski ist die wichtigste sephardische Dichterin des 20. Jahrhunderts.«

Enrique Krauze


»Die Poesie von Clarisse Nicoïdski taucht ihre Wurzeln in das Gedächtnis unserer Sprache. Poesie der zitternden Wurzel, der zugleich verlorenen und wiedergewonnenen Erinnerung, der Liebe, des Vergessens, das auf geheimnisvolle Weise Gegenwart und Anwesenheit wird.«

Andrés Sánchez Robayna